1. «Organoide bieten eine spannende Alternative zu Tierversuchen.»
Interview mit Professor Dr. Matthias P. Lütolf über die Fortschritte in der Organoid-Technologie und deren Anwendung in der Pharmaforschung und das Institut für Humanbiologie
Heike Scholten (HS): Herr Lütolf, könnten Sie uns zunächst erklären, was Organoide genau sind und warum sie in der Forschung so revolutionär sind?
Prof. Dr. Matthias P. Lütolf (MPL): Sehr gerne. Organoide sind im Wesentlichen miniaturisierte Organmimetika, die in der Zellkultur aus Stammzellen gezüchtet werden. Diese Stammzellen können entweder aus einem Patienten selbst entnommen oder in Form von sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen ‚programmiert‘ werden. Organoide sind besonders spannend, weil sie das menschliche Gewebe in dreidimensionaler Form und mit verschiedenen Zelltypen nachbilden, die verschiedene Funktionen im Körper übernehmen. Dadurch lassen sich komplexe physiologische Vorgänge simulieren, was mit herkömmlichen Zellkulturen oft nicht möglich ist.
«Wir können untersuchen, ob bestimmte Medikamente und deren Kombinationen besser wirken als andere und vor allem, ob ein Medikament die Tumorzellen angreift, ohne gesunde Zellen zu schädigen.»
Prof. Dr. Matthias P. Lütolf
HS: Das klingt faszinierend! Wie werden Organoide konkret in der Forschung und insbesondere in der Medikamentenentwicklung eingesetzt?
MPL: Organoide können in allen Phasen der Arzneimittelentwicklung eingesetzt werden. Das heißt, von der sehr frühen Forschung – z. B. wenn es um die Identifizierung neuer so genannter „Targets“ geht oder wenn man Krankheitsmechanismen besser verstehen will – bis hin zur klinischen Forschung. In unserem Institut entwickeln wir zum Beispiel Tumororganoide aus Biopsieproben von Krebspatienten. Diese Miniatur-Tumore ermöglichen uns, die Wirkung von Medikamenten direkt am Modell des Patienten zu testen. Wir können untersuchen, ob bestimmte Medikamente und deren Kombinationen besser wirken als andere und vor allem, ob ein Medikament die Tumorzellen angreift, ohne gesunde Zellen zu schädigen. Dies ist möglich, weil wir im selben Experiment Organoide von gesunden Zellen desselben Patienten testen können. Das gleiche Prinzip lässt sich auch auf andere Krankheiten anwenden. Dies ist ein grosser Vorteil gegenüber herkömmlichen Modellen, bei denen oft erst in klinischen Studien entdeckt wird, ob ein Medikament wie erhofft wirkt und wie sich die Nebenwirkungen verhalten.
HS: Also hilft diese Technologie auch dabei, die Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen?
MPL: Absolut. Die durchschnittliche Entwicklungszeit für ein Medikament beträgt etwa 13 Jahre. Organoide bieten uns die Möglichkeit, bereits in den frühen Phasen der Entwicklung bessere Vorhersagen zu treffen. Dadurch können die Experten und Entscheidungsträger bei Roche Programme schneller stoppen, wenn sie nicht vielversprechend sind, was enorme Zeit und Ressourcen spart. Es ist bekannt, dass etwa 95 Prozent aller Medikamentenkandidaten scheitern, bevor sie überhaupt die Klinik erreichen. Mit Organoiden hoffen wir, diese Erfolgsquote deutlich zu verbessern.
HS: Wie steht es um den Einsatz von Tiermodellen in der Forschung? Können Organoide diese ersetzen?
MPL: Der Einsatz von Tiermodellen in der Forschung ist ein sehr wichtiges Thema. Roche ist den 3R-Prinzipien verpflichtet und wir tun unser Möglichstes, um Alternativen wie Organoide voranzutreiben. Leider können auf die Arbeit mit Tieren zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht vollständig verzichten. Vor diesem Hintergrund bieten Organoide eine spannende Alternative zu Tierversuchen, insbesondere in Bereichen, in denen Tiermodelle nicht gut funktionieren. Ein Beispiel ist die Immunonkologie. Bestimmte Mechanismen, die in der menschlichen Immunabwehr gegen Krebs wichtig sind, lassen sich bei Mäusen kaum reproduzieren. In solchen Fällen bieten Organoide die Möglichkeit, menschliche Zellmodelle zu verwenden, um die Wirkung von neuen Medikamenten zu testen. Das reduziert die Notwendigkeit für Tierversuche erheblich.
«Wenn wir in der Lage sind, menschliche Krankheiten in vitro zu simulieren und die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten bereits in diesen Modellen vorherzusagen, könnten wir die Erfolgsquote in der Arzneimittelentwicklung erheblich steigern.»
Prof. Dr. Matthias P. Lütolf
HS: Welche Vision haben Sie für die Zukunft der Organoidforschung?
MPL: Unsere Vision ist es, Vorhersagemodelle zu entwickeln, die immer besser abbilden, was in einem Patienten passiert oder wie ein Patient auf ein Medikament reagiert. Das Ziel ist es, die Lücke zwischen der Grundlagenforschung und klinischer Anwendung zu schliessen. Wenn wir in der Lage sind, menschliche Krankheiten in vitro zu simulieren und die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten bereits in diesen Modellen vorherzusagen, könnten wir die Erfolgsquote in der Arzneimittelentwicklung erheblich steigern. Ein anderes langfristiges Ziel ist es, Organoide so weit zu entwickeln, dass sie in Krankenhäusern zur personalisierten Medizin eingesetzt werden können. Stellen Sie sich vor, ein Onkologe könnte die besten Behandlungsmöglichkeiten für einen Patienten testen, indem er Mini-Tumore des Patienten im Labor züchtet und verschiedene Therapien ausprobiert.
HS: Das klingt nach einem gewaltigen Schritt in Richtung personalisierte Medizin. Welche Herausforderungen sehen Sie dabei?
MPL: Eine der grössten Herausforderungen ist die Skalierbarkeit und Reproduzierbarkeit. Organoide sind sehr komplexe Strukturen, und es ist nicht immer einfach, sie in grossen Mengen und in gleichbleibender Qualität herzustellen. Hier kommt das Bio-Engineering ins Spiel, das uns hilft, die Entwicklung der Zellen zu ein Organoid präzise zu steuern und sie standardisiert herzustellen. Eine weitere Herausforderung ist die Analyse der grossen Datenmengen, die diese dreidimensionalen Modelle erzeugen, insbesondere wenn wir uns lebende Organoide mit hochentwickelter Lichtmikroskopie in Echtzeit anschauen. Hier setzen wir auf künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, um diese Daten effizient zu verarbeiten.
HS: Das Institut für Humanbiologie wurde erst im Mai 2023 gegründet. Wie sehen Sie die Entwicklung bisher?
MPL: Wir haben bereits einige bedeutende Fortschritte gemacht. In den letzten Monaten konnten wir wichtige wissenschaftliche Publikationen veröffentlichen, unter anderem in prestigeträchtigen Zeitschriften wie Nature*. Innerhalb von Roche haben wir bereits mehrere Projekte erfolgreich unterstützt, indem wir mit unseren Organoidmodellen zur Entscheidungsfindung beigetragen haben. Das ist wichtig, denn wir wollen mit unseren Modellen einen echten Einfluss auf die Entwicklung von Arzneimitteln und die strategische Ausrichtung von Projekten haben.
HS: Welche Rolle spielen Kooperationen mit anderen Forschungseinrichtungen in Ihrer Arbeit?
MPL: Solche Kooperationen sind für uns von zentraler Bedeutung. Wir haben enge Partnerschaften mit führenden Hochschulen wie der ETH Zürich und der EPFL. Mit der ETH haben wir ein Doktorandenprogramm aufgebaut, bei dem die Doktoranden sowohl bei uns als auch an der Universität betreut werden. Dies ermöglicht es uns, die besten Talente zu fördern und gleichzeitig sicherzustellen, dass unsere Forschung immer auf dem neuesten Stand der Wissenschaft bleibt. Auch international arbeiten wir mit vielen Partnern zusammen, aber wir sehen es als unsere Aufgabe, insbesondere die Spitzenforschung in der Schweiz voranzutreiben.
«Die Tatsache, dass wir heute Organoide herstellen können, die menschliches Gewebe so genau nachbilden, ist für mich ein absoluter Durchbruch in der Biologie.»
Prof. Dr. Matthias P. Lütolf
HS: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was hat Sie dazu inspiriert, sich der Biologie und speziell der Stammzellforschung zu widmen?
MPL: Ursprünglich habe ich Werkstoffwissenschaften studiert, aber während meiner Doktorarbeit habe ich mein Interesse an der Regenerationsmedizin und der Stammzellbiologie entdeckt. Ich fand die Möglichkeit sehr faszinierend, Stammzellen zu verwenden, um Gewebe zu regenerieren und Krankheiten zu behandeln. Die Tatsache, dass wir heute Organoide herstellen können, die menschliches Gewebe so genau nachbilden, ist für mich ein absoluter Durchbruch in der Biologie. Es gibt kaum ein spannendere Aufgabe, als verstehen zu lernen, wie Leben funktioniert, wie Zellen miteinander kommunizieren um ein Gewebe zu bilden und wie wir dieses Wissen nutzen können, um Patienten zu helfen.
HS: Vielen Dank für das spannende Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!
* Alle Publikationen des IHB finden Sie hier auf der Webseite des Institutes.
2. Zur Person von Prof. Dr. Matthias P. Lütolf

Matthias P. Lütolf ist Gründungsdirektor und Leiter der Abteilung Translational Bioengineering am Institute für Humanbiologie (IHB) von Roche und Professor für Bioengineering an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL). Seine Forschung konzentriert sich auf den Einsatz modernster Bioengineering-Strategien zur Steuerung der stammzellbasierten Entwicklung, um neuartige Organoide mit verbesserter Reproduzierbarkeit und physiologischer Relevanz für die Grundlagenforschung und reale Anwendungen in der Arzneimittelforschung und -entwicklung aufzubauen.
3. Das Institut für Humanbiologie von Roche
Das IHB ist eng mit der akademischen Forschung und der Pharma Research & Early Development (pRED) von Roche, unter der Leitung von Hans Clevers, verbunden und verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, um menschliche Modellsysteme von der Grundlagenforschung über die angewandte bis hin zur translationalen Forschung für die Arzneimittelentwicklung voranzubringen – mit echten Auswirkungen für die Patienten. Kein anderes Institut auf der Welt bietet diese nahtlose Integration von akademischer und pharmazeutischer Forschung.
Das Institut bringt multidisziplinäre Teams mit Fachkenntnissen aus einer Vielzahl von Disziplinen wie Physik, Chemie, Biologie, Ingenieurwesen, Informatik usw. zusammen. Unterstützt von modernsten Technologieplattformen, tragen die Teams zur Umsetzung von interdisziplinären Projekten bei. Zu den Technologieplattformen gehören eine Organoid-Farm, um Organoide zu verfeinern und die Organoid-Skalierung zu prototypisieren, eine Biobank zur Entwicklung von Gewebebank- und Organoid-Biobankkapazitäten mit einem multidisziplinären Team von Organoidexperten sowie fortschrittliche Mikroskopie- und Bildgebungsfunktionen mit modernster Infrastruktur. Das IHB hat seinen Sitz in Basel, Schweiz.
Zu den Technologieplattformen gehören eine Organoid-Farm zur Verbesserung und zum Prototyping der Skalierung von Organoiden und das Biobanking zum Aufbau einer Gewebe- und Organoid-Biobanking-Kapazität mit einem multidisziplinären Team von Organoid-Experten. Das IHB ist in der Schweiz in Basel angesiedelt und verfügt über ein zusätzliches Satellitenlabor in Schlieren in der Nähe von Zürich.