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Interview mit Dr. Daniel Breutstedt: Die Mendel’schen Gesetzmässigkeiten

In Forschungseinrichtungen werden mehr Tiere gehalten als in Experimenten eingesetzt werden. Über die Gründe, warum sich das nicht ganz vermeiden lässt und welche Möglichkeiten zur Reduktion bestehen, gibt Daniel Breustedt, Team Leader in der Abteilung NIBR’s Scientific Operations/Comparative Medicine bei Novartis, Auskunft.

Im Interview mit Dr. Daniel Breutstedt

Im Verlaufe der Entwicklung von neuen innovativen Therapien und Medikamenten erfolgt auch die Erprobung der Wirkstoffe mit Tieren. Es geht um die Prüfung der Wirksamkeit und der Verträglichkeit in der präklinischen Forschung. Zu diesem Zweck werden mehr Tiere gezüchtet, als gebraucht werden. Warum?

Das hat verschiedene Gründe. Der wichtigste Grund ist die Sicherstellung der wissenschaftlichen Aussagekraft des Versuchs am Tier in der Forschung. Oft ist es so, dass für bestimmte Fragestellungen Versuchstiere mit bestimmten genetischen Merkmalen benötigt werden. Auf dem Weg zur Zucht dieser spezifischen Tiere werden unweigerlich weitere Tiere geboren.

Sie sprechen von genetischen Merkmalen. Welche Rolle spielen die Vererbungsregeln dabei, dass mehr Tiere geboren werden, als im Experiment zum Einsatz kommen?

Die Zucht von genetisch veränderten Linien – und darauf beziehe ich mich hier – unterliegt den biologischen Gesetzmässigkeiten. Gregor Mendel hat bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Erbsen herausgefunden, wie Vererbung funktioniert. Und diese sogenannten Mendel’schen Gesetzmässigkeiten gelten für Menschen, Mäuse – sie gelten im Prinzip für alles, was lebt. Sie lassen sich nicht ausser Kraft setzen. Deswegen werden unausweichlich auch Tiere geboren, die nicht die für ein Experiment erforderlichen genetischen Merkmale tragen.

Können Sie das an einem Beispiel aufzeigen?

Schon bei der Zucht z. B. einer Mauslinie mit nur einer genetischen Veränderung werden neben den Tieren mit dem gewünschten genetischen Merkmal auch Tiere geboren, die dieses Merkmal nicht tragen. Das ist quasi durch die Mendel’schen Regel vorgegeben. Die biologischen Fragestellungen und damit auch die verwendeten Tier- oder Mausmodelle werden jedoch immer komplexer. Heute haben wir rund 50 Prozent der Tiere mit einer genetischen Veränderung, rund 30 Prozent der Tiere mit zwei genetischen Veränderungen und rund 20 Prozent der Tiere mit drei oder mehr genetischen Veränderungen.

Ich erkläre das gerne an einem Beispiel: Ziel in der Zucht von Tieren für ein Experiment ist es, drei genetische Merkmale A, B und C in einer Mauslinie zu vereinen. Das Merkmal A ist ein genetischer Ein/Aus-Schalter. Es liegt in der Mauslinie A vor. Das Merkmal B in Mauslinie B ist ein ausschaltbares Zielgen, das z. B. mit einer Krankheit in Verbindung steht. Das Merkmal C in Mauslinie C ist ein einschaltbarer Fluoressenzfarbstoff. Die Zucht der für ein solches Experiment gewünschten Mauslinie ABC ist komplex, weil nicht alle drei Merkmale in einem Zuchtschritt kombiniert werden können. Es kann immer nur eine männliche Maus mit Merkmal A mit einer weiblichen Maus mit Merkmal B verpaart werden. Die Nachkommen tragen dann Merkmal A und B. Im nächsten Schritt kann die Maus AB mit einer Maus mit dem Merkmal C verpaart werden. Dieser mehrstufige Zuchtprozess hat zur Folge, dass mehr Tiere geboren werden, als im Experiment eingesetzt werden.

Was geschieht mit Tieren, die nicht im Experiment eingesetzt werden?

Überzählige Tiere aus komplexen Zuchtvorgängen werden beispielsweise Wächtertiere. Das heisst, sie werden zur Überwachung der Gesundheit von Versuchskolonien eingesetzt. Wächter oder im Fachjargon auch Sentineltiere leben in eigenen Käfigen und werden regelmässig mit Einstreu und/oder gebrauchten Käfigkomponenten von anderen Tieren in Kontakt gebracht. Das heisst, es sind auch mögliche Krankheitserreger dabei.

Die Tiere werden dann regelmässig veterinärmedizinisch untersucht. Auf diesem Wege können wir den Hygienestatus der Kolonie in regelmässigen Zeitabständen prüfen. Darüber hinaus bieten wir die Tiere, die während der Zucht nicht die für das Experiment notwendige gentechnische Veränderung erlangt haben, unseren Forschenden für andere Forschungs- oder Trainingszwecke an – wenn beispielsweise eine neue chirurgische Methode, wie das Einsetzen eines Mikrochips, erlernt werden muss.

Gibt es Bestrebungen und Möglichkeiten, die Zahl der gezüchteten Tiere so klein wie möglich zu halten?

Das ist unsere Ambition und wir haben hier in den letzten Jahren signifikante Fortschritte erzielt! Sowohl in den einfachen Fällen mit nur einer genetischen Veränderung als auch in den komplexeren Fällen kann durch eine sorgfältige Planung und klugen Zuchtstrategien die Anzahl der Tiere reduziert werden. Wir haben dafür die Zucht der Tiere zentralisiert. Erfahrene Spezialisten in Zucht und Genetik sind heute das Bindeglied zwischen Forschern und Tierpflegern. Ihre Aufgabe ist es, komplizierte Zuchtstrategien zu planen, zu kontrollieren und umzusetzen. Umsetzen heisst, eine erforderliche Anzahl von Tieren mit den spezifischen genetischen Merkmalen, also dem richtigen Genotyp, und dem richtigen Alter für ein spezifisches Experiment zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung zu haben. Mit intelligenten Zuchtschemata lässt sich die Zahl der gezüchteten Tiere ganz klar verringern. Doch es bleibt wichtig zu verstehen, dass überschüssige Tiere wegen der biologischen Gesetzmässigkeiten nicht ganz vermieden werden können.

Die richtigen Tiere und die richtige Anzahl. Das klingt sehr anspruchsvoll. Was ist der Grund für diese Exaktheit?

Das hat mit der statistischen Belastbarkeit des Experiments zu tun. Es ist einfach so, dass biologische Prozesse auch bei genetisch identischen Tieren eine Varietät hervorbringen. Das heisst, dass sich zwei identische Tiere in einem Experiment nicht zu 100 Prozent gleich verhalten müssen. Um jedoch im Experiment aussagekräftige, belastbare Ergebnisse zu erhalten, braucht es deswegen eine statistisch erforderliche Anzahl vonTieren, die von einem Biostatistiker exakt ermittelt wird.

Warum ist das Alter der Tiere so entscheidend?

Die Altersspanne ist relevant, weil der Effekt, den man messen möchte, der sogenannte Phänotyp, sich über die Zeit entwickelt und ausprägt. Deswegen ist eine vergleichbare Altersgruppe wichtig. Denn wenn sich ein acht Wochen altes Tier anders verhält als ein zwölf Wochen altes Tier, dann sind die Daten schwer vergleichbar und die Belastbarkeit bzw. die Aussagekraft des Experiments nicht gegeben. Ein zweiter Faktor im Zusammenhang mit dem Alter der Versuchstiere möchte ich an zwei Beispielen illustrieren: Alzheimer ist eine Erkrankung, die sich eher im höheren Alter ausprägt. Dementsprechend werden transgene Mausmodelle hier mit älteren Mäusen gemacht. Immunologische Forschung hingegen wird mit jüngeren Tieren gemacht, weil das Immunsystem im jüngeren Alter besser funktioniert und anspricht als bei älteren Tieren.

Wie relevant ist die Homogenität der Versuchstiere für die Qualität bzw. die Belastbarkeit der Experimente?

Üblicherweise zielen wir auf eine grösstmögliche Gruppenhomogenität ab. Insbesondere in der biologischen und medizinischen Forschung ist es so, dass Prozesse untersucht werden, bei denen teilweise nur geringfügige Veränderungen beobachtet und gemessen werden sollen. Damit das möglich wird, müssen wir das sogenannte Hintergrundrauschen reduzieren. Das heisst, dass sowohl die inneren Faktoren, also die Homogenität, als auch die äusseren Faktoren konstant sind. Zu den äusseren Faktoren gehören beispielsweise die Behandlung durch den Tierpfleger, die Temperatur im Tierhaus, Umgebungsgeräusche und Vibrationen, der Licht-Dunkel-Zyklus oder der Geruch. Bei den inneren Faktoren – also dem, was wir innerhalb der Tiere Homogenität nennen, kommt es z. B. auf das Alter der Tiere an.

Für manche Experimente ist es ausserdem nötig, sich den Stammbaum der Tiere genau anzuschauen, weil die Versuchstiere und die Kontrolltiere Geschwister aus demselben Wurf sein müssen. Auch die Darmflora der Tiere kann eine Rolle spielen. So haben zwei identische Tiere oder zwei Tiere aus einer identischen Linie aus zwei verschiedenen Institutionen üblicherweise eine leicht unterschiedliche Darmflora, was in manchen Experimenten messbar ist.

Auf welche Technologien können Sie zurückgreifen, um die Zahl der Versuchstiere für den Einsatz in der Forschung zu reduzieren?

Es gibt Tiere, die befinden sich nur in der Erhaltungszucht und werden weiter gezüchtet, weil die Forschenden die Tiere mit genetischen Veränderungen oder sonstigen Merkmalen nicht verlieren wollen.

Hier bietet sich für die Reduktion die Kryokonservierung an. Dabei werden die Embryonen in flüssigem Stickstoff bei einer Temperatur von unter minus 195 Grad eingefroren und bei Bedarf wieder einer Leihmutter eingesetzt, um die Zucht wieder neu zu starten. Eine relativ neue Methode ist ausserdem die CRISPR/Cas9-Technologie.

«Entscheidend für die Reduktion von Tierversuchen sind intelligente Zuchtschemata und der regelmässige Austausch darüber mit allen Beteiligten.»

Mit diesem sogenannten Gen-Editing können Tiere schneller und präziser mit neuen genetischen Veränderungen ausgestattet werden. Der Effekt: Einige Zuchtschritte werden gespart oder mehrere gewünschte Eigenschaften können parallel in das Erbgut der Ursprungstiere einer Mauslinie gebracht werden. Wie mit jeder neuen Methode bringt die CRISPR/Cas9-Technologie jedoch auch neue Herausforderungen mit sich, die unbedingt im Auge behalten werden müssen, wenn wir offen mit dieser neuen Technologie umgehen wollen. Entscheidend für mich bleibt die Reduktion der Tierversuche über intelligente. Zuchtschemata und der regelmässige Austausch darüber mit allen Beteiligten – auch mit anderen Instituten, um die Züchtung von Versuchstieren möglichst effizient zu halten.