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Mit Organoiden die 3R-Prinzipien umsetzen: Neue Wege in der biomedizinischen Forschung

Die Entwicklung von Organoiden markiert einen Wendepunkt in der biomedizinischen Forschung. Organoide bilden menschliche Organe nach. Sie ermöglichen realitätsnahe Krankheitsmodelle und tragen dazu bei, Tierversuche gemäss dem 3R-Prinzip zu reduzieren oder ganz zu ersetzen.

Replace, Reduce, Refine – kurz das 3R-Prinzip ist das ethische Leitprinzip für die Verwendung von Tieren in der bio-medizinischen und pharmazeutischen Forschung. In der Schweiz wie in vielen anderen Ländern ist das 3R-Prinzip zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere rechtlich verankert. Für Forschende bedeutet das, dass sie die 3R-Prinzipien in allen Phasen der Planung und Durchführung von Tierversuchen berücksichtigen. Der Anspruch dabei ist es, Tierversuche nur dann durchzuführen, wenn es keine vertretbaren Alternativen dazu gibt (Replace) und dabei das Leiden der Tiere zu minimieren (Refine) sowie ihre Anzahl so gering wie möglich zu halten (Reduce). Formuliert haben die drei Säulen, die den Einsatz von Tieren in wissenschaftlichen Experimenten minimieren und das Tierwohl maximieren, die britischen Wissenschaftler William Russel und Rex Burch bereits vor 65 Jahren. Seither ist sehr viel passiert. So konnte die Anzahl Tierversuche in den letzten 30 Jahren von 2 Millionen auf 600’000 Tiere in der Schweiz gesenkt und die Belastung reduziert werden. Die Entwicklung und der Einsatz von Alternativmethoden anstelle von Tierversuchen hat für die erfolgreiche Umsetzung des 3R-Prinzips eine grosse Bedeutung. Eine vielversprechende Alternativmethode ist die Arbeit mit Organoiden.

Das Potenzial von Organoiden

Organoide sind miniaturisierte und dreidimensional organisierte Gewebestrukturen. Sie werden im Labor gezüchtet und können die grundlegenden Eigenschaften eines echten Organs, wie Leber, Darm, Niere, Netzhaut oder Gehirn nachahmen. In der Forschung werden Organoide verwendet, um die Entwicklung von Organen, Krankheitsmechanismen und Medikamentenwirkungen zu untersuchen und die Komplexität von menschlichem Gewebe und Organen besser zu verstehen und zu modellieren. Sie haben zudem das Potenzial, den Entwicklungsprozess von neuen Medikamenten und Therapien zu beschleunigen und zu personalisieren.

Stammzellen: der Rohstoff für Organoide

Erst die Forschung an Stammzellen und die Entwicklungsbiologie haben die Herstellung von Organoiden ermöglicht. Stammzellen sind sogenannte undifferenzierte Zellen. Sie haben die besondere Fähigkeit, sich fast unbegrenzt teilen und vermehren zu können. Je nach Stammzellentyp haben Stammzellen auch ein hohes Differenzierungspotenzial. Das heisst, sie können unterschiedliche spezialisierte Zelltypen ausbilden. Eine embryonale Stammzelle beispielsweise ist eine undifferenzierte Zelle, weil noch nicht klar ist, welche Rolle von den rund 200 Zelltypen im Körper sie übernehmen wird – also ob aus ihr beispielsweise eine Leber-, Blut-, Muskel- oder Nervenzelle wird. Embryonale Stammzellen sind in der Lage, sich zu fast jedem Zelltyp auszubilden. Deswegen gilt sie auch als pluripotente Zelle. Im erwachsenen Organismus haben Stammzellen eine reparierende und pflegende Funktion. Erwachsene (somatische) Stammzellen sorgen dafür, dass sich Organe oder verletztes Gewebe erholen.

Bahnbrechend: die induzierte pluripotente Stammzelle

Eine grosse Errungenschaft in der Stammzellenforschung ist die Möglichkeit, aus zum Beispiel einer Hautzelle, wieder eine humane Stammzelle zu erzeugen. Diese als induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) künstlich erzeugten Stammzellen können durch eine genetische Reprogrammierung aus praktisch jeder normalen Körperzelle ohne Stammzelleneigenschaften gewonnen werden. Sie wird, einfach gesagt, genetisch reprogrammiert und in ihren pluripotenten, undeterminierten Ursprungszustand zurückversetzt.

Eine potenziell unendliche Ressource

Diese durch Erkenntnisse in der Entwicklungs- und Molekularbiologie ermöglichte Form des Stammzellen-Engineerings gelang erstmals dem japanischen Wissenschaftler Shinya Yamanaka im Jahr 2006. Ein bahnbrechender Vorteil der iPSC ist, dass Forschende nicht mehr auf embryonale Stammzellen für ihre Arbeit angewiesen sind. Denn induzierte pluripotente Stammzellen besitzen wieder die Eigenschaft, sich in nahezu alle Zelltypen des Körpers entwickeln zu können. So können auch patientenspezifische Stammzellen erzeugt werden, die beispielsweise für die Modellierung von Krankheiten oder zur Entwicklung von personalisierten Therapien eingesetzt werden. Induzierte pluripotente Stammzellen sind eine potenziell unendliche Ressource, um den medizinisch-pharmazeutischen Fortschritt auch mit der Arbeit an Organoiden voranzutreiben.

Dreidimensionale Zellstrukturen die Organen gleichen

Das Wort Organoid entstammt dem griechischen Wort Organon. Das bedeutet Werkzeug, Instrument oder Organ. Die Endung «oid» verweist darauf, dass es sich um etwas handelt, das «ähnlich» ist. Dementsprechend sind Organoide im Labor gezüchtete Zellgruppen, die sich unter optimalen Bedingungen zu einer gewünschten Organsimulation entwickeln. Jedes Organoid entspricht einer dreidimensional organisierten Gewebestruktur und ist quasi eine Massanfertigung aus Stammzellen, dessen Fähigkeiten darin besteht, die grundlegenden Eigenschaften eines Organs nachzuahmen. Der Herstellungsprozess ist komplex. Die Stammzellen – pluripotente oder erwachsene somatische Stammzellen – müssen bestimmte Wachstumseigenschaften aufweisen. Komponenten wie die spezifische Nährstoffzufuhr, müssen der jeweiligen dreidimensionalen Zellgruppe in einer bestimmten Reihenfolge oder zu bestimmten Zeitpunkten hinzugefügt werden.

Stimulation der Organoidentwicklung

Die Herausforderung, für die an und mit Organoiden arbeitenden Forschenden, ist es, die optimalen Bedingungen herauszufinden, die die Stammzellen in ihrer Entwicklung hin zu Organoiden stimulieren und fördern. Das kann Jahre beanspruchen. Wurde diese Formel jedoch gefunden, vermehren und differenzieren sich die Stammzellen, sodass sie zellbasierte Strukturen erzeugen und sich die dreidimensionalen Organoide ohne fremde Hilfe bilden. In den nächsten Jahren wird es in der Forschung und Entwicklung darum gehen, das Wissen um jene Faktoren zu erhöhen, welche die Stammzellen und Organoiden benötigen, damit sie sich realen Organen – vor allem auch in ihrer Umgebung wie das Immunsystem, Blutgefässe oder Nerven – immer mehr ähneln. Zudem wird sich das heute bereits breite Spektrum der Organe, die mit Organoiden erforscht werden können, kontinuierlich erweitern.

Das bestehende Spektrum an Organoiden

Gehirn

Gehirn

Miniaturmodelle des Gehirns werden verwendet, um die neuronale Entwicklung, Erkrankungen wie Alzheimer oder Autismus und die Auswirkungen von Medikamenten zu untersuchen.

Darm

Darm

Modelle von Dünn- und Dickdarm helfen, die Darmbarriere, die Mikrobiota und Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Krebs zu erforschen.

Leber

Leber

Lebermodelle dienen zur Untersuchung der Leberfunktion, von Lebererkrankungen (z. B. Hepatitis) und zum Test von Medikamententoxizität.

Lungen

Lungen

Nachbildungen der Atemwege werden verwendet, um Erkrankungen wie COVID-19, Asthma und andere Atemwegsinfektionen zu erforschen.

Herz

Herz

Miniherzen, die die Kontraktion von Herzgewebe nachbilden und zur Erforschung von Herzkrankheiten und Medikamententests eingesetzt werden.

Nieren

Nieren

An Nierenorganoiden werden Nierenfunktion und -krankheiten, einschliesslich Nierenversagen und Medikamentenwirkungen untersucht und erforscht.

Pankreas

Pankreas

Pankreas-Organoide dienen der Erforschung von Diabetes, Insulinproduktion und Pankreaskrebs.

Magen

Magen

Modellieren die Magenstruktur und -funktion, um z. B. Geschwüre, Infektionen wie Helicobacter pylori und Magenerkrankungen zu erforschen.

Brust

Brust

Nachbildung von Brustdrüsengewebe, die zur Untersuchung von Brustkrebs verwendet werden.

Augen

Augen

Modelle von Netzhaut und anderen Teilen des Auges, um Augenerkrankungen und Sehbehinderungen zu erforschen.

Der Einsatz von Organoiden ist vielfältig und potent

Organoide spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten und Therapien, weil sie menschliche Organe und Gewebe realistischer nachbilden als herkömmliche Zellkulturen oder Tierversuche. Sie bilden quasi eine Brücke zwischen der Zellkultur und dem lebenden Organismus, wodurch häufig eine präzisere und realitätsnähere Forschung ermöglicht wird. Die Anwendungs- und Einsatzbereiche von Organoiden sind mannigfaltig.

Verbesserung der Modellierung von Krankheiten

Bei der Krankheitsmodellierung beispielsweise werden Organoide verwendet, um die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten detailliert untersuchen zu können. Hier werden Pathologien und die Progression von Krankheiten wie Krebs oder Infektionskrankheiten modelliert, um die biologischen Mechanismen zu verstehen, die den Krankheitsverläufen zugrunde liegen oder um potenzielle molekulare Ziele für neue Medikamente zu identifizieren.

Therapien für Erbkrankheiten entwickeln

Bei genetischen Erkrankungen helfen Organoide, die Auswirkungen spezifischer genetischer Mutationen auf die Organentwicklung zu analysieren, indem Forschende Organoide von Patientinnen und Patienten mit bestimmten Erbkrankheiten erzeugen. Dies ermöglicht die Erforschung von genetischen Krankheiten und bietet eine Plattform, um potenzielle Gentherapien zu testen oder langfristig Therapien für Erbkrankheiten zu entwickeln. In der Infektionsforschung werden Organoide verwendet, um die Auswirkungen von Krankheitserregern wie Viren und Bakterien auf menschliches Gewebe zu testen und potenzielle Behandlungen zu finden.

Immense Fortschritte in der personalisierten Medizin

Eine besondere Bedeutung kommt den Organoiden in der Personalisierten Medizin zu. Hier können Organoide aus den Zellen eines Patienten oder einer Patientin hergestellt werden, um patientenspezifische Krankheitsmodelle zu konstruieren. Das ermöglicht es, unterschiedliche Behandlungsoptionen in vitro, also in einer kontrollierten Laborumgebung zu testen und die effektivste zu finden. Insbesondere in der Krebstherapie werden Tumororganoide eingesetzt, um die wirksamste Therapie für einzelne Patienten zu finden. Ausserdem ermöglicht ein Tumororganoid Forschenden die Entwicklung und die Progression des Tumors sowie die Metastasen tiefgreifend zu analysieren und besser zu verstehen. Auch können z.B. Tumororganoide mit Zellen aus dem Immunsystem kombiniert werden, um die Reaktion des Immunsystems (Immunantwort) auf den Krebs zu simulieren. Das hilft, Immuntherapien so weiterzuentwickeln, dass das körpereigene Immunsystem zur Bekämpfung von Krankheiten aktiviert wird.

Behandlung von degenerativen Krankheiten verbessern

In der regenerativen Medizin helfen Organoide, um das regenerative Potenzial von Stammzellen zu untersuchen und zu testen, wie diese in das geschädigte Gewebe integriert werden können. So lassen sich mögliche Ansätze für die Behandlung von degenerativen Erkrankungen wie z.B. Diabetes oder Herzinsuffizienz entwickeln oder neue Therapien gegen Leber-, Nieren-, Lungen- oder Stoffwechselerkrankungen.

Medikamente gezielter, effizienter und schneller entwickeln

Schliesslich bringen Organoide grosse Vorteile beim Screening von Wirkstoffen und der Kandidatenauswahl, bei Toxizitäts- und Sicherheitsbewertungen sowie der Optimierung der Dosis und Darreichungsform bei neuen Medikamenten. Beim Wirkstoffscreening können mit Organoiden grosse Mengen an chemischen Verbindungen getestet und potenzielle Medikamente identifiziert werden, die spezifische krankheitsrelevante Ziele beeinflussen. Organoide bieten eine realistischere Umgebung, um die Reaktion von menschlichem Gewebe auf die Wirkstoffe zu testen. Da Organoide komplexe Zell-Zell-Interaktionen und Gewebearchitekturen nachbilden, liefern sie genauere Vorhersagen darüber, wie ein Medikament im menschlichen Körper wirken könnte, als das einfache Zellkulturen.

Erbsengrosse Multitalente revolutionieren Forschung und Entwicklung

Die meist nicht grösser als eine Erbse Organoide helfen also, die Aufgabenteilungen von Organen und biochemischen Wechselwirkungen innerhalb des Körpers besser zu verstehen. Inzwischen ist die Forschung auch in der Lage, verschiedene Organoide auf einer Platine in der Grösse eines Smartphones miteinander in Verbindung zu setzen. Auf diese Weise kann das Zusammenspiel der Prozesse im Körper immer besser nachgestellt werden, etwa um die Verstoffwechselung von neuen Medikamenten zu testen, also wie sich der Wirkstoff im Körper chemisch verändert. Diese Multiorganchiptechnik dürfte sich in den kommenden Jahren deutlich weiter verbessern. Schliesslich bleibt die Hoffnung über die Organoidtechnologie auch voll funktionsfähige Spenderorgane im Labor kreieren zu können.

Die Wirkung von Organoiden auf die Umsetzung des 3R-Prinzips

Grosse Hoffnung wird natürlich daran gesetzt, dass Organoide Tierversuche eines Tages vollständig ersetzen können. Heute ist das nicht der Fall. Mit dem Einsatz von Organoiden lassen sich Tierversuche in vielen Bereichen der Forschung und Medikamentenentwicklung aber reduzieren und teilweise ersetzen. Der Ersatz von Tierversuchen durch Organoide stösst heute vor allem wegen der fehlenden Systemkomplexität an Grenzen. Komplexe Interaktionen zwischen verschiedenen Organsystemen oder der Einfluss auf den gesamten Organismus können in Organoiden und ihrer bisherigen Vernetzungsmöglichkeiten noch nicht ausreichend gut simuliert werden. In vielen Fällen fehlen Organoiden noch die reale Umgebung mit Blutgefässen, Nerven und Immunsystem. Das schränkt ihre Fähigkeit ein, bestimmte Prozesse wie Entzündungen oder Immunreaktionen vollständig nachbilden zu können. Zudem haben Organoide (noch) Schwierigkeiten, Langzeitprozesse wie Alterung oder chronische Erkrankungen vollständig zu simulieren, sodass Tierversuche vorerst notwendig bleiben.

Fortschritte werden den Einsatz von Tieren erheblich verringern

Aber Organoide werden zunehmend als Ergänzung zu Tierversuchen verwendet, insbesondere in frühen Phasen der Forschung und Wirkstoffentwicklung. Hier, in der präklinischen Forschung können Organoide helfen, potenzielle Wirkstoffe effizienter und menschenspezifischer zu testen, bevor Tierversuche zur Überprüfung systemischer Effekte erforderlich sind. Das reduziert die Anzahl der nötigen Tierversuche. Mit der Weiterentwicklung wird das Potenzial von Organoiden, Tierversuche zu ersetzen, weiter steigen und die menschliche Relevanz der Ergebnisse verbessern. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis die Organoidtechnologie Tierversuche vollständig ersetzen können.


Quellen: