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Massstäbe setzen. Zehn Jahre Animal Welfare Charta

Vor zehn Jahren haben sich die forschenden pharmazeutischen Firmen in der Schweiz mit der 10-Punkte-Charta zum verantwortungsvollen Umgang mit Tieren in der Forschung bekannt und damit in der Schweiz und international einiges in Gang gesetzt.

1. Lebensqualität für Mensch und Tier verbessern

Die Aufgabe der forschenden pharmazeutischen Firmen in der Schweiz ist es, neue, lebensverbessernde oder, wenn immer möglich, heilende Arzneimittel gegen schwere und komplexe Krankheiten für Patientinnen und Patienten zu entwickeln. Gleichzeitig muss auch die Sicherheit von Medikamenten gewährleistet sein. Bis ein neues Medikament diese Stufe und damit den Reifegrad für den Einsatz im medizinischen Alltag erreicht, vergehen viele Jahre. Der Weg ist lang und komplex, die Zielerreichung erfordert Präzisionsarbeit und interdisziplinäre Expertise. An verschiedenen Stationen dieses Entwicklungsprozesses ist die Forschung mit Tieren immer noch unabdingbar. Die Grundlagenforschung ist angewiesen auf Tiermodelle, und auch in präklinischer und klinischer Entwicklungsphase eines Arzneimittels arbeiten Forscherinnen und Forscher mit Tieren, um beispielsweise Missbildungen bei Föten oder krebserzeugende Wirkungen des Präparates auszuschliessen. Der Einsatz von Labortieren gewährt wichtige Einblicke in die Entstehung und die Mechanismen von schweren Krankheiten und stellt sicher, dassArzneimittel sicher, wirksam und verträglich sind. Ohne dieses wichtige Fundament von Forschung und Entwicklung würde ein Grossteil an Medikamenten und Behandlungen fehlen, von denen Gesellschaft und Patientinnen und Patienten heute profitieren. Die forschenden Pharmafirmen in der Schweiz sind sich jedoch bewusst, dass der Einsatz von Tieren in der Forschung gesetzlich und ethisch zur Anwendung höchster Standards verpflichtet.

2. Den verantwortungsvollen Umgang sicherstellen

Die Animal Welfare Charta, die Tierschutzcharta von Interpharma wurde vor zehn Jahren ins Leben gerufen. Mit der Unterzeichnung der Charta unterstrichen die forschenden Pharmafirmen in der Schweiz ihre ethische Verantwortung bei Tierversuchen in der Schweiz und international. Der leitende Gedanke der Charta sind die 3R: Replace, Reduce und Refine. Damit verpflichtet sich die Industrie, möglichst viele Tierversuche durch alternative Methoden zu ersetzen (Replace), die Zahl der Versuchstiere zu reduzieren (Reduce) und deren Belastung möglichst gering zu halten (Refine). Christine Egerszegi-Obrist, ehemalige Ständerätin und Präsidentin der Stiftung Forschung 3R, bewertete diesen Schritt der Industrie bei der Lancierung der Charta im Jahr 2010 als ein Bekenntnis der Branche für das Bemühen und die Zielsetzung, hohe Standards bei Tierversuchen möglichst auf der ganzen Welt zu etablieren. Sie attestierte, dass es der Industrie nicht darum gehe, gesetzliche Minimalvorgaben durchzusetzen, sondern international mit Vorbildcharakter voranzugehen.

Aufgaben und Ziele des 3R-Kompetenzzentrums (3RCC)

1

Förderung qualitativ hochwertiger Forschung zum Wohl der Tiere, durch die finanzielle Unterstützung herausragender wissenschaftlicher Projekte im Bereich der 3R

2

Entwicklung einer 3R-Bildungsstrategie, angepasst auf verschiedene Stufen und Berufsgruppen

3

Schaffung eines Netzwerks und einer Kommunikationsplattform für Stakeholder und Interessierte, mit aktuellen Informationen zu den 3R-Prinzipien und den Alternativmethoden

3. Von der Stiftung Forschung 3R zum 3R-Kompetenzzentrum

Nicht erst mit der Schaffung der Animal Welfare Charta im Jahr 2010 setzten die forschenden Pharmafirmen der Schweiz Massstäbe und Zeichen. Bereits an der Gründung der Stiftung Forschung 3R im Jahr 1987 war die Industrie massgeblich beteiligt. Die Stiftung, ein Gemeinschaftswerk der parlamentarischen Gruppe für Tierversuchsfragen, des Fonds für versuchstierfreie Forschung und Interpharma, unter der Aufsicht des Eidgenössischen Departements des Innern, förderte über mehr als drei Jahrzehnte die Forschung für bessere Methoden und Alternativen zu Tierversuchen. Zwischen 1987 und 2018 unterstützte die Stiftung 146 Forschungsprojekte zur Umsetzung und Verbreitung der 3R-Grundsätze mit Förderbeiträgen in der Höhe von 19.6 Millionen Franken. Die Mittel stammten paritätisch von Bund und Wirtschaft. Heute wird diese Entwicklung vom 2018 gegründeten nationalen 3R-Kompetenzzentrum 3RCC weitergeführt und gestärkt. Im 3RCC sind Akademien, Industrie, Behörden und Tierschutz vereint und fördern gemeinsam Projekte, die einen klaren Einfluss auf den Ersatz, die Reduktion und die Verfeinerung von Tierversuchen haben und im Vergleich zu bestehenden Methoden einen wissenschaftlichen und ethischen Nutzen bringen.

4. Einbezug der Akademien – zusammen international wirken

Die Animal Welfare Charta der Pharmaindustrie setzte Meilensteine, die auch von den akademischen Forschenden als richtungsweisend anerkannt wurden. Die Charta beeinflusste massgeblich die Formulierung von Grundsätzen und Zielen der Basler Deklaration – ein Aufruf der Akademien für mehr Vertrauen, Transparenz und Kommunikation in der Tierforschung. Die Basler Deklaration wurde am 29. November 2010 im Rahmen der ersten Basler Konferenz «Research at a crossroads» verabschiedet. Wie die Deklaration von Helsinki, in welcher die ethischen Grundsätze für die klinische Forschung am Menschen formuliert sind, will die «Basel Declaration Society» dazu beitragen, dass ethische Prinzipien wie die 3R in der tierexperimentellen Forschung weltweit angewendet werden. Erstunterzeichnet wurde die Deklaration von über 60 akademischen Forscherinnen und Forschern aus der Schweiz, aus England, Frankreich und Schweden. Inzwischen wurde die Basler Deklaration von über 4 700 Vertreterinnen und Vertretern der akademischen Forschung aus 65 Ländern unterzeichnet. Gemeinsam setzen die Animal Welfare Charta und die Basler Deklaration ein wichtiges Zeichen für die Förderung des Wohlergehens von Labortieren in der industriellen und auch der akademischen biomedizinischen Forschung. Die internationale Verbreitung der Selbstverpflichtungen von Industrie und Akademie ist von besonderer Bedeutung, weil anders als in der Schweiz und Europa die Forschung am Tier in vielen anderen Ländern der Welt gesetzlich nur unzulänglich oder zum Teil gar nicht reguliert ist.

5. Dialog mit Interessengruppen und Öffentlichkeit

Mit der Charta, dem jährlichen Animal-Welfare-Bericht, der die zahlreichen Projekte und Initiativen zur Verbesserung des Tierwohls in der Forschung dokumentiert, und dem Engagement im Rahmen des Kompetenzzentrums 3RCC stellen sich die forschenden Pharmafirmen in der Schweiz dem Dialog mit der Öffentlichkeit und den Stakeholdern. So ist der regelmässige Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern des Schweizer Tierschutzes (STS) und der Industrie seit 2011 fest etabliert. Die transparente Kommunikation und die Bildung von bereichsübergreifenden Arbeitsgruppen und Netzwerken signalisiert den gemeinsamen Willen und unterstützt den Prozess zur kontinuierlichen und nachhaltigen Verbesserung der Situation von Labortieren.

6. Vielversprechende Alternativen

Was versprechen die nächsten zehn Jahre Animal Welfare Charta? Neue digitale Technologien bergen ein enormes Potenzial für die weitere Reduktion, Verfeinerung und den Ersatz von Tierversuchen. Bereits heute lassen sich mithilfe von computerbasierten Simulationsmodellen viele Fragen zu neuen Wirkstoffen untersuchen. Vielversprechend sind auch In-vitro-Methoden wie die Organs-on-a-Chip-Technologie: Aus Stammzellen werden Miniaturorgane künstlich nachgebildet und auf kleinen Plättchen platziert, um das Innere des menschlichen Körpers zu modellieren. Mit diesen Chips können Wirkstoffkandidaten in einem frühen Stadium auf Wirksamkeit und Toxizität geprüft werden. Noch steckt die Technologie in den Kinderschuhen. So können heute erst vier bis fünf Organe auf einem Chip verbunden werden – ein Bruchteil des menschlichen Organismus. Um künftig als Alternativen in der Medikamentenentwicklung eingesetzt zu werden, müssen digitale Technologien also noch weiter fortschreiten. Doch das Forschungsinteresse ist gross. Die Suche nach Alternativmethoden lohnt sich nicht nur für das Wohl der Labortiere, sondern auch für die Unternehmen, da sie meistens weniger kostenintensiv und einfacher standardisierbar sind als Tiermodelle. Auch in der Haltung der Labortiere werden immer innovativere digitale Systeme angewendet, die das Wohlergehen der Tiere verbessern und gleichzeitig umfassendere, aussagekräftigere Daten für die Forschenden liefern. Auch wenn sie Tierversuche in absehbarer Zeit nicht ersetzen werden, sind das gute Aussichten für das Tierwohl und den wissenschaftlichen Fortschritt.

7. Exkurs: Interview mit Dr. Birgit Ledermann

«Wir müssen unseren Dialog mit der Öffentlichkeit verstärken.»

Warum haben sich die forschenden Pharmafirmen in der Schweiz vor zehn Jahren entschlossen, die Animal Welfare Charta von Interpharma zu unterzeichnen?

Die Forschung mit Tieren ist ein sehr emotionales Thema. Viele Menschen kritisieren die Forschung mit Tieren, wollen aber gleichzeitig Gewissheit, dass neue Medikamente die höchsten Qualitäts-, Wirksamkeits- und Sicherheitsstandards erfüllen. Während es für Pharmaunternehmen üblich ist, interne Standards für die Tierforschung nach den jeweiligen staatlichen Standards und weiteren Standards einzubeziehen, ist das Einzigartige an Interpharma, dass diese Standards in der ge- samten Branche in der ganzen Schweiz aufeinander abgestimmt wurden. Nach der Erhebung von vier Schlüsselelementen, a) einem offenen und konstruktiven Dialog zwischen den Interessenträgern, b) der Förderung der allgemeinen und beruflichen Bildung, c) der Förderung aller Aspekte der 3R und d) der Prüfung und Zertifizierung, wurden die zehn Artikel der Tierschutzcharta entwickelt. Die Verpflichtungen der Charta gelten für Interpharma-Mitgliedsunternehmen sowie für alle externen Forschungs- und Entwicklungspartner. Dies ist besonders wichtig, da die Tierschutzstandards von Land zu Land unterschiedlich sind und die Charta gleichbleibend hohe Standards gewährleistet, unabhängig davon, wo die Forschung mit Tieren stattfindet.

Was war für Sie persönlich in den letzten zehn Jahren in Bezug auf die Charta das grösste Highlight bzw. die positivste Entwicklung?

Eines der wichtigsten Highlights ist für mich der offene und konstruktive Dialog der Interessensvertreter. Interpharma pflegt seit vielen Jahren einen regelmässigen, konstruktiven Dialog mit der Schweizer Tierschutzorganisation STS und der Universität Zürich. Dieser Dialog hat zu einem gegenseitigen Verständnis der beteiligten Organisationen geführt. Ein weiteres Highlight von Interpharma sind die gemeinsamen Audits unserer externen Partner. Diese gemeinsamen Anstrengungen helfen uns, den Tierschutz und die Umsetzung der 3R (Verringerung der Tierzahlen, Verbesserung der Tierversuche und Ersatz von Tierversuchen durch alternative Methoden) bei unseren Partnern zu verbessern. Die Audits reduzieren die Arbeitsbelastung und den Zeitaufwand für die Mitgliedsunternehmen und die externen Partner und werden daher sehr geschätzt.

Welche Bedeutung hat die Charta international?

Die Charta hat internationale Aufmerksamkeit erlangt, weil die Pharmaindustrie in der Schweiz zum ersten Mal ihre Tierschutzstandards angeglichen und gemeinsame Audits durchgeführt hat. Die Charta und das Konzept für die ge-meinsamen Audits dienen als Vorbild, und beide wurden in den letzten Jahren auf verschiedenen Konferenzen und Tagungen in verschiedenen Ländern vorgestellt.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die nächsten zehn Jahre Charta?

Die biomedizinische Forschung, einschliesslich der pharmazeutischen Industrie, stösst immer mehr auf Widerstand gegen die Forschung mit Tieren. Während wir unseren internen Dialog über die Notwendigkeit des Einsatzes von Tieren für die Entdeckung und Validierung neuer Arzneimittel ausgeweitet haben, müssen wir unseren Dialog mit externen Interessensvertretern, insbesondere mit der Öffentlichkeit, verstärken. Wir müssen häufiger und offener über die Bedeutung dieser For- schung sprechen, dass Tiere nur dann in der Forschung eingesetzt werden dürfen, wenn es keine anerkannten Alter- nativen gibt, und über die hohen gesetzlichen Standards und das Engagement der Menschen, welche mit den Tieren arbeiten. Darüber hinaus müssen wir die Umsetzung der 3R – Reduktion, Verfeinerung und Ersatz von Tierforschung – weiter fördern. Die Anwendung der 3R-Prinzipien reduziert nicht nur die Anzahl der für die Forschung eingesetzten Tiere, sondern auch die Variabilität der Daten und verbessert so die Qualität der Forschung mit Tieren. Interpharma unterstützt das Schweizer 3R Competence Center finanziell und ist in seinen Leitungsgremien vertreten. Ein weiteres Ziel ist die Fort- setzung unserer gemeinsamen Audits zur Bewertung unserer externen Partner.

Ist es realistisch oder vorstellbar, dass die Arzneimittelentwicklung eines Tages ganz auf Tierversuche verzichten kann?

Obwohl die pharmazeutische Industrie grosse Anstrengungen unternimmt, um die Forschung mit Tieren nach Möglichkeit durch alternative Methoden zu ersetzen, wird die Entwicklung neuer, sicherer Arzneimittel in absehbarer Zeit ohne den Ein- satz von Tieren nicht möglich sein.