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Interview mit Joachim Coenen: Big Data und KI in der Tierforschung

Big Data und künstliche Intelligenz werden für die Weiterentwicklung der 3-R-Prinzipen in der präklinischen Forschung eine entscheidende Rolle spielen. Joachim Coenen, Senior Expert Animal Science and Welfare bei der Merck-Gruppe gibt im Interview einen Einblick über den Stand der Dinge und einen Ausblick, wo die Entwicklung hingehen sollte.

1. Im Interview mit Joachim Coenen, Senior Expert Animal Science and Welfare bei der Merck-Gruppe

Wie notwendig sind Plattformen und Kooperationen, um die Daten aus der präklinischen Forschung u.a. mit Tieren für Forschende zugänglich und nutzbar zu machen, um die 3R – Reduce, Replace und Refine – weiter voranzutreiben? 

Joachim Coenen: Um das 3R-Prinzip weiter voranzutreiben ist es notwendig, Plattformen und Kooperationen zu schaffen, die die Daten aus der präklinischen Forschung für Forschende zugänglich und nutzbar machen. Das bringt verschiedene Vorteile. Zum einen ermöglicht das die Wiederverwendung und Weiterentwicklung von bestehenden Daten und Modellen, wodurch die Zahl der benötigten Versuchstiere reduziert werden (Reduce) kann. Zum anderen erleichtern Plattformen und Kooperationen den Austausch von Wissen und Erfahrungen über Refine- oder Replace-Methoden. Refine-Methode, zu denen zum Beispiel humane Endpunkte, Analgesie oder Mikro-CT gehören, verbessern das Tierwohl. Bei den Replace-Methoden geht es um die Entwicklung und Validierung von alternativen Methoden, wie z.B. In-vitro-Systeme oder Computermodelle, um Tierversuche ganz oder teilweise zu ersetzen.

Können Sie uns Beispiele von solchen Plattformen und Kooperationen aus der Praxis geben?

Ein gutes Beispiel ist die DZHK Heart Bank des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung. Dort werden Daten und Bioproben aus der präklinischen kardiovaskulären Forschung gesammelt und Forschenden weltweit zur Verfügung gestellt. Auch die Arbeit der DFG-Forschungsgruppe FOR 2591 hat Vorbildcharakter. Das Forschungskonsortium beschäftigt sich mit der Belastungseinschätzung in der tierbasierten Forschung. Im Idealfall wird allerdings eine Künstliche Intelligenz (KI) geschaffen, die unter Kontrolle von Forschenden ein komplettes präklinisches und klinisches Programm entwickelt. Die Grundlage für die Entwicklung eines solchen Programms sind alle verfügbaren Daten und Methoden. Das können New Approach Methods (NAMs), aber wo erforderlich auch Tierversuche sein. Eine solche KI-basierte Plattform schlägt den Forschenden Studien vor, und auf Grundlage der Ergebnisse aus diesen Studien, wird das Programm angepasst und weitergetrieben bis hin zur Erstellung der Zulassungsdokumente (z.B. IND oder CTDs).

Das klingt sehr anspruchsvoll. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um eine solche KI getriebene Plattform für die präklinische Forschung umzusetzen?

Es liegt auf der Hand, dass für solche Projekte einige Parameter geklärt sein müssen. Zu nennen sind unter anderem die Einhaltung von Standards für die Erhebung, Aufbereitung, Speicherung und Veröffentlichung von Daten. Zudem müssen der Datenschutz, die Datensicherheit und die Frage des geistigen Eigentums sichergestellt sein. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist aber sicher auch die Bereitschaft der Forschenden für die Zusammenarbeit und den Austausch von Daten und Ressourcen untereinander. Und last but not least natürlich die Verfügbarkeit von finanziellen, technischen und personellen Ressourcen. Denn die präklinische Forschung ist ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung neuer Medikamente und Therapien, die das Leben von Patientinnen und Patienten verbessern können. Sie erfordert jedoch einen hohen Investitions- und Zeitaufwand, sowie die Einhaltung von ethischen und rechtlichen Standards.

Wie stehen die Chancen, dass es mit Big Data und KI auch in der Schweiz vorwärts geht?

Diese Frage wurde eigentlich im August 2023 vom Handelsblatt Inside (Digital Health) in einem Artikel mit dem Titel «Novartis führt bei KI-Einsatz in Pharmaforschung» beantwortet. Nach einer Analyse des Center for International Economics and Business and International Trade and European Integration (CIEB) führt Novartis die Rangliste beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz an, da sich drei Prozent aller von Novartis in der wissenschaftlichen Datenbank Scopus veröffentlichten Artikel mit KI in der Medikamentenentwicklung beschäftigen. Roche setzt KI meines Wissens vor allem in den Bereichen Onkologie, Immunologie, Infektionskrankheiten und Neurologie ein. Beispiele für konkrete Anwendungen von KI bei Roche sind zum Beispiel eine KI-gestützten Auswertung von Computertomografie-Aufnahmen der Lunge, um COVID-19-Infektionen schneller und genauer zu diagnostizieren, die KI-basierte Analyse von genetischen Daten, um seltene Krankheiten zu identifizieren und passende Therapien zu finden oder die KI-gestützte Erforschung von Tumoren, um neue Biomarker und Wirkstoffe zu entdecken. Somit ist auch Roche ein Vorreiter beim Einsatz von KI für die Medizin. Die Chancen, dass in der Schweiz etwas in diesem Thema geht, sind also sehr gut.

Gibt es dafür besondere Gründe?

Die Schweiz ist ein Land mit einer hohen Forschungsintensität und einem starken Engagement für den Tierschutz, ohne jedoch die Augen vor der Notwendigkeit zur Durchführung von Tierversuchen zu verschliessen. Ich habe die Wissenschaft in der Schweiz immer als progressiv und datengetrieben, pragmatisch und verantwortungsbewusst kennengelernt. In meinen Augen bietet die Schweiz eine optimale Kombination für die Entwicklung KI basierter Systeme für die Pharmaforschung und sie hat bereits einige Organisationen, die für ein solches Vorhaben wertvolle Unterstützung leisten können.

Welche Organisationen sind das?

Es sind das Schweizerische 3R-Kompetenzzentrum (3RCC), das die Umsetzung des 3R-Prinzips fördert und koordiniert, die Swiss Platform for Advanced Scientific Computing (PASC), die den Zugang zu Hochleistungsrechnern für die präklinische Forschung erleichtert, die Swiss Biobanking Platform (SBP), die die Qualität und Verfügbarkeit von Bioproben für die präklinische Forschung verbessert oder die Swiss Clinical Trial Organisation (SCTO), die die Zusammenarbeit zwischen den klinischen und präklinischen Forschenden unterstützt. Diese Plattformen und Kooperationen ermöglichen es den Forschenden, von den Synergien, dem Wissenstransfer und der Ressourcenteilen zu profitieren. Und sie tragen auch dazu bei, die Sichtbarkeit und Anerkennung der präklinischen Forschung in der Schweiz zu erhöhen. Ich denke, dass diese Initiativen ein gutes Beispiel für andere Länder sind, die sich für das Thema interessieren.

«Eine solche KI-basierte Plattform schlägt den Forschenden Studien vor, und auf Grundlage der Ergebnisse aus diesen Studien, wird das Programm angepasst und weitergetrieben bis hin zur Erstellung der Zulassungsdokumente.»

Joachim Coenen

Und welche Rolle spielen die Pharmafirmen?

Die Mitwirkung von Schweizer Pharmafirmen bei der Entwicklung von Big Data und KI-driven Plattformen und Kooperationen ist essenziell, um Daten aus der präklinischen Forschung zu entwickeln und zu betreiben. Nur so können die KI und die Wissenschaft pragmatisch dazu genutzt werden, um Studien durchzuführen und Daten zu erzeugen, die den Anforderungen und der rigorosen Kontrolle der Zulassungsbehörden weltweit standhalten.

Wen sehen Sie in der Rolle des Trägers oder Initiators von solchen Plattformen?

Bei der Pharmaentwicklung sehe ich die Schweizer Pharmafirmen im Lead. Sie wissen ganz genau, wo KI am besten eingesetzt werden kann, um ihre Medikamente erfolgreich zu entwickeln. Sie wissen aber auch, wo Lücken sind und wo noch mit herkömmlichen (ggf. tierversuchsgetriebenen) Methoden gearbeitet werden muss. Von Anfang an müssen aber auch die Zulassungsbehörden mit in diesen Projekten involviert sein, da sie letztlich auf Basis der produzierten Daten ein Medikament zulassen. Für die Rolle des Koordinators würde sich das oben erwähnte 3-R-Kompetenzzentrum anbieten. Allerdings muss klar geregelt sein, dass die Pharmaindustrie im Lead ist und das Vorhaben steuert.

Und die Rolle der Wissenschaft?

Solche Projekte können nur erfolgreich sein, wenn Wissenschaftler der verschiedenen Fachbereiche, die ja häufig nicht so viel miteinander zu tun haben, mit involviert sind. Sie können von überall herkommen. Aus der Industrie, den Akademien oder aus der Start-up-Szene, die sich zielgerichtet einem Projekt widmen können.

2. Steckbrief Dr. Joachim Coenen

Dr. med. vet. Joachim Coenen ist Senior Expert Animal Science and Welfare bei der Merck-Gruppe (EMD in den USA und Kanada) und arbeitet in der Funktion SQ-A (Corporate Animal Affairs) bei der Merck-Gruppe. Dr. Coenen erhielt seinen Abschluss als Tierarzt und promovierte in Biochemie und Endokrinologie an der Universität Gießen, Deutschland. Er ist Fachtierarzt für Versuchstierkunde und als Diplomate of the American Board of Toxicology (DABT) zertifiziert. Zusätzlich zu seiner Erfahrung in Versuchstierkunde und Tierschutz verfügt er über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der nicht-klinischen Arzneimittelentwicklung, Einlizenzierung und Outsourcing und arbeitete in der deutschen und US-amerikanischen Pharmaindustrie. Neben vielen anderen Aktivitäten in nationalen und internationalen Verbänden (EFPIA, vfa) ist er Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zur Einschränkung von Tierversuchen set und ist Chair der Animal Welfare Working Group der Interpharma– Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, derzeit als Immediate Past Chair im Board of Directors von AAALAC International tätig und Mitglied der Bundeskommission für Tierschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Deutschland.