animalwelfare
biotechlerncenter

Der lange Weg zum Medikament

In einem Medikament stecken jahrelange Präzisionsarbeit und interdisziplinäre Expertise. Damit die Medizin beim Menschen verlässlich wirkt, ist in der Entwicklung von neuen Medikamenten die Forschung mit Tieren unabdingbar.

1. Hightech-Produkt Medikament

Ein Medikament braucht annähernd so lange wie ein Mensch, bis es ausgereift ist. 13 Jahre erfordert ein Wirkstoff im Durchschnitt bis zur Zulassung und weitere Jahre, bis das Arzneimittel im medizinischen Alltag etabliert ist. Auf dem langen Weg dahin lauern Sackgassen und Irrwege. Doch hier endet der Vergleich mit dem Heranwachsen eines Menschen. Ein Medikament ist ein industrielles Hightech-Produkt, an dessen Entstehung Biologen, Chemiker, Mediziner, Pharmazeuten und weitere Spezialisten mitwirken. Grundlagenforschung und translationale (anwendungsbezogene) Forschung bereiten den Boden für die Entwicklung von medizinisch nutzbaren Substanzen, die umfassend vorklinisch und klinisch geprüft werden müssen, damit Patienten von neuen, wirksameren Therapien profitieren können.

2. Grundlagenforschung braucht Tiermodelle

Am Anfang eines neuen Medikaments beziehungsweise eines Diagnostikums zur Erkennung und Bestimmung von Krankheiten steht die biomedizinische Grundlagenforschung. Sie sucht nach Mechanismen, die Krankheiten auf der Ebene von Zellen, Zellbestandteilen oder sogar von einzelnen Molekülen zugrunde liegen. Hierfür nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine breite Palette moderner Methoden, darunter Tiermodelle. An ihnen lassen sich die Lebensvorgänge, wie sie im Menschen ablaufen, nachvollziehen und Krankheiten verstehen. Die Forschung schafft mit ihren Erkenntnissen die Voraussetzung, um nach neuen medizinischen Wirkstoffen überhaupt suchen zu können. Denn nur wer einen Angriffspunkt (meistens ein Target-Molekül) hat, kann nach einem Stoff suchen, der ins Krankheitsgeschehen wirksam eingreift. Suche nach und «Bau» von geeigneten Substanzen sind in der Regel ein mehrjähriger Prozess aus Hunderten von Einzelschritten. Eine grosse Zahl von Substanzen wird daraufhin untersucht, ob sie die für einen Wirkstoff erforderlichen Eigenschaften aufweisen. Computergestützte Verfahren leisten dafür gute Dienste. Sie ersetzen heute Tierversuche in erheblichem Umfang.

3. Vorklinische Prüfung im lebenden Organismus

Am Ende stehen Substanzen, die das Potenzial zu einem Arzneimittel haben. Diese Wirkstoffkandidaten werden in der vorklinischen Prüfung auf Wirksamkeit und Verträglichkeitgetestet. Toxikologen und weitere Fachleute analysieren sie auf Giftigkeit, um auszuschliessen, dass sie möglicherweise Krankheiten wie Krebs auslösen oder Schäden am Erbgut anrichten. Computersimulationen werden für diese Untersuchungen ebenso herangezogen wie Bakterien, Zell- und Gewebekulturen oder isolierte Organe. Versuche mit Ratten oder Mäusen, in selteneren Fällen auch mit Nichtnagern, sind notwendig, um Wechselwirkungen von aussichtsreichen Wirkstoffen mit Zellen und Organen im lebenden Organismus zu erforschen. Solche Versuche sind zum Beispiel unabdingbar, um festzustellen, ob eine Substanz lange genug im Körper verbleibt, damit sie die erwünschte medizinische Wirkung erfüllen kann. Versuche mit mindestens zwei Tierarten (beispielsweise Ratten und Hunde) sind für bestimmte Fragestellungen gesetzlich vorgeschrieben. Dabei werden alle Versuche stets nach international anerkannten Standards durchgeführt.

4. Klinische Prüfung am Menschen

Nur Wirkstoffkandidaten, die sich beim Tier als wirksam und sicher erwiesen haben, werden für Tests mit Menschen zugelassen. Die klinische Prüfung ist langwierig und organisatorisch anspruchsvoll. Im ersten Schritt werden die unter anderem in Tierversuchen gewonnenen Befunde über Verträglichkeit, Aufnahme, Verteilung, Umwandlung und Ausscheidung der Wirkstoffkandidaten an einer begrenzten Zahl gesunder Menschen überprüft (Phase-I-Studien). Es folgen Phase- II-Studien an einer überschaubaren Zahl kranker Menschen, die insbesondere über Wirksamkeit, Nebenwirkungen und die passende Dosierung des Wirkstoffs Auskunft geben. Die Erkenntnisse werden in Phase-III-Studien mit Einbezug Tausender erkrankter Menschen überprüft. Dank der grossen Teilnehmerzahl können dabei auch seltene Nebenwirkungen erkannt werden. Parallel zu den klinischen Tests am Menschen erfolgen weitere Versuche an Tieren. Mit ihnen lassen sich beispielsweise Nebenwirkungen bei Langzeitanwendung oder Beeinträchtigungen der Fortpflanzungsfähigkeit feststellen.

5. Tierfreie Alternativmethoden haben Vorrang

Hat ein Wirkstoff alle Tests erfolgreich durchlaufen, wird er durch die Behörden – nach eingehender Prüfung der Testergebnisse – für Patientinnen und Patienten zugelassen. Nach der Markteinführung werden die Erfahrungen mit dem Medikament systematisch erfasst und ausgewertet. Weitere klinische Studien geben Auskunft über sehr selten auftretende Nebenwirkungen (Phase-IV-Studien). Auch in dieser Phase können Tierversuche nötig werden, wenn ein Wirkstoff für weitere Krankheiten (Indikationen) oder in einer anderen Verabreichungsform zugelassen werden soll und dafür erneut klinische Phase-II- oder Phase-III-Studien erforderlich sind. Dabei gilt über den gesamten Zyklus der Medikamentenentwicklung hinweg: Tierversuche werden nur durchgeführt, wenn sie unerlässlich sind und keine alternativen Methoden zur Verfügung stehen. Jeder Tierversuch ist bewilligungspflichtig, und jede Person, die mit Tieren arbeitet, untersteht einer Weiterbildungspflicht.

6. Exkurs: Interview mit Prof. Michael Hottiger

«Ohne Grundlagenforschung sind neue Medikamente undenkbar»

Herr Prof. Hottiger, welche Rolle spielt die Grundlagenforschung bei der Entwicklung neuer Medikamente?

Die medizinische Grundlagenforschung untersucht die komplexen Funktionen im gesunden sowie im kranken Körper. Ihre Erkenntnisse schaffen idealerweise – aber längst nicht immer – die Grundlage für neue Therapien. Resultiert daraus ein neues Medikament, dauert dessen Entwicklung mehrere Jahre. Ohne Grundlagenforschung ist die Entwicklung neuer Medikamente heute undenkbar. Praktisch all unsere Medikamente beruhen auf deren Erkenntnissen.

Welche Bedeutung haben Tierversuche in der Grundlagenforschung?

Gewisse Tierarten sind dem Menschen hinsichtlich Körperfunktionen oder Organaufbau sehr ähnlich. Diesen Umstand nutzt die Grundlagenforschung, um pathologische Prozesse zu verstehen. Die am Tier entwickelten Modelle lassen sich für wissenschaftliche Fragestellungen heranziehen. Dank der Tiermodelle können wir für den Menschen relevante Krankheitsmechanismen untersuchen, beschreiben und verstehen, ohne unverantwortliche Eingriffe in den menschlichen Organismus vornehmen zu müssen.

Wäre es nicht möglich, Tierversuche nur in der anwendungsbezogenen Forschung einzusetzen?

Es liegt in der Natur der Grundlagenforschung, nicht direkt ein Medikament zu entwickeln. Würden wir uns auf translationale Forschung beschränken, würden wir längerfristig eine wichtige ergänzende Wissensquelle verlieren. Zusätzliche Erkenntnisse über Funktionen unseres Körpers wären dann nicht mehr möglich, der medizinische Fortschritt würde blockiert. Aus diesem Grund wäre es verheerend, würden Tierversuche in der Grundlagenforschung verboten.

Können Sie das am Beispiel Ihrer Forschung veranschaulichen?

Wir untersuchen, wie Entzündungen entstehen, wie sie das Gewebe oder Organ verändern und wie sie wieder abklingen. Unsere Erkenntnisse ermöglichen beispielsweise ein vertieftes Verständnis von bakteriellen Infektionen, aber auch von nicht bakteriellen, sterilen Entzündungen, die nach heutigem Wissen unter anderem eine wichtige Rolle bei der Alterung des Körpers oder bei der Krebsentstehung spielen. Solche Entzündungen gehen stets mit komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Zelltypen des Bluts und den Organen einher. Dieses dynamische Geschehen kann man nicht an einer Zellkultur oder an organähnlichen Mikrostrukturen studieren. Hierfür brauchen wir das Tier. Entzündungsforschung – auch wenn sie wie an unserem Institut modernste Technologien nutzt – ist auf lebendige Organismen angewiesen.

Wie weit lassen sich Tierversuche in der Grundlagenforschung durch alternative Methoden ersetzen?

Das 3R-Prinzip ist von zentraler Bedeutung. Wir wenden es in unserer Forschung konsequent an. Bevor ich bei der kantonalen Tierversuchskommission einen Antrag stelle, lege ich Rechenschaft ab, welche Vor- und Nachteile ein Tiermodell hat und ob ein Tierversuch wirklich nötig ist oder ob es alternative Methoden gibt, um den gleichen Wissensgewinn zu erlangen. Wenn ich auf einen Tierversuch verzichten kann, tue ich das aus tierschützerischen und ethischen Gründen, aber auch, weil es einer der teuersten Versuche ist, die man in der Grundlagenforschung machen kann. Um dem Tierschutz bestmöglich gerecht zu werden, frieren wir beispielsweise auch die Organe von getöteten Tieren ein, um sie bei späteren Versuchen und Fragestellungen verwenden zu können. Ich kann mir aus heutiger Sicht nicht vorstellen, dass Tierversuche eines Tages ganz vermieden werden können. Aber indem wird weiterhin Tiermodelle validieren und das 3R-Prinzip strikt umsetzen, können wir weitere Fortschritte für das Tierwohl erzielen.